Donnerstag, 3. Mai 2007

Brigittes Bar

Brigittes Bar ist im lebendigsten Teil der Stadt. Obwohl Günter Esenwein weit entfernt von Berlin in einem kleinen Ort bei Ulm wohnt, kommt er häufig in diese Stadt. Esenwein, der Schlosser, genießt es, in netter Gesellschaft zu reisen und läßt es nicht darauf ankommen, dass ein Anhalter auf ihn wartet. Er wendet sich an die Mitfahrzentrale, um einen Reisegefährten zugewiesen zu bekommen. Es ist gut, dass sich der Mitfahrer an den Benzinkosten beteiligen muss. Denn Benzin ist sehr teuer geworden. Esenwein gehört nicht gerade zu den Reichen. Die Leute, die er bei den Reisen kennenlernt, sind fast alle so nett, wie er es sich von den Kollegen, mit denen er als Schlosser zu tun hat, gewünscht hätte. Bei seinen Arbeitskollegen dreht sich alles um die Arbeit und ums Geldverdienen. Aber für Esenwein ist es nur von Bedeutung, geliebt zu werden. Wenn er merkt, dass jemand nicht so feinfühlig ist, wie er es sich wünscht, kann er mit ihm nichts anfangen. Er wünscht sich freundliche Menschen. Aber meistens ist nur derjenige, der etwas von ihm erwartet, so freundlich, wie es Esenwein braucht. Er merkt, dass die Freundlichkeit, die er hier empfängt, nichts mit Liebe zu tun hat.

Esenwein ist Gitti nicht gleichgültig. Sie weiß, dass er, wenn er in Berlin ist, immer zu ihr in die kleine Bar kommt. Sie weiß, dass er Schlosser ist. Sie merkt, dass er ziemlich schüchtern ist. Nein, er ist ihr nicht gleichgültig, gewiss nicht. Irgendwie mag sie ihn gerne. Vielleicht ist sie selbst der Grund, weshalb er so oft nach Berlin fährt.

Eigentlich war Esenwein nicht gerne Schlosser. Das Mönchsleben hatte für ihn etwas Anziehenderes als sein Beruf. Esenwein hätte es nicht gestört, dass er als Mönch hätte arm sein müssen. Was ihn anzog, war die Gemeinschaft, die ihm ein Klosterleben geboten hätte. Er hatte große Angst davor, einsam zu sein. Aber er brachte ein Leben als Mönch irgendwie mit Schwulsein in Verbindung. Und er wollte sich nicht zu den Schwulen zählen. Brigitte sagte, dass sie nicht darüber nachdenke, ob einer schwul sei oder nicht. Wenn Esenwein schwul gewesen wäre, hätte sie ihn auf ihre Art trotzdem gemocht. Sie sagte: „Es gibt Männer, die eigentlich einen Hund suchen, aber in ein Katzengeschäft gehen."

Ein Stammgast, der Alfred, mischte sich in das Gespräch ein, indem er sagte: "Ich habe vor einiger Zeit noch gehofft, dass ich unter Menschen, die so veranlagt sind, eine Heimat finden würde. Aber jetzt habe ich meine Heimat in dieser Bar gefunden. Ich habe in der Zeit, in der ich deine Bar besuche, manches von dir, Brigitte, gelernt. Gott weiß, warum er mich gerade so geschaffen hat. Und so ist es gut. Wir sind alle so wie Gott uns gewollt und wie das Leben uns geformt hat. Obwohl ich meine Eltern liebe, ihre moralischen Wertvorstellungen übernehme ich nicht mehr. Denn sie sind in meinen Augen kleinlich und engstirnig. Ich passe halt nicht so richtig in meine Familie. Ich muss meinen eigenen Weg finden. Das ist für mich nicht gerade leicht!"

Alles Schwere im Leben sind Kreuze, die der Mensch zu tragen hat. Auch um zu reifen.

Esenwein empfindet es als nicht gut, dass er das meiste von dem Geld, das er sich als Schlosser mühevoll erarbeitet hatte, bei seinen Reisen nach Berlin für ein wenig Zuwendung ausgab. Er hatte eigentlich nicht viel von seinem Geld gehabt. Und sein Leben ist - so denkt er selbstmitleidig - irgendwie gescheitert. Aber es ist schon recht, dass Gott nicht etwa gesagt hat: "Für den armen Günther ist das Kreuz zu schwer. Ich kann es nicht auf seine schwachen Schultern legen." "Am Kreuz kann ich reifen, ich will es tragen", denkt Esenwein. Und scherzhaft sagte einer der Gäste: "Dein Kreuz ist, dass man dir als kleines Kind deinen Schnuller zu früh weggenommen hat."

"Ich weiß schon, was du bräuchtest", sagte Brigitte. "Ich denke, das du das, was du brauchst, bei Christen finden könntest." Mit Brigitte kann man über alles reden, sogar über Glaubensfragen. Darüber war Esenwein nicht wenig überrascht. Aber Brigittes Bar ist nun mal eine besondere Bar.