Montag, 23. April 2007

Selbstbiographie

Wenn er will, dann kann er!

Ich bin jetzt 54. Erst als ich 37 Jahre alt war, habe ich Menschen gefunden, die sich mit mir auskannten. Es waren Psychologen, Menschen mit Gefühl. Ich möchte hier erzählen, wie ich mit ihrer Hilfe versuche, mein Leben zu bewältigen. Besonders gut kann ich bei langen Spaziergängen über alles sprechen, was mich beschäftigt und bedrückt. Meistens gehe ich mit Gisela Baumann um den Kuhsee in der Nähe von Augsburg . Gisela arbeitet beim betreuten Wohnen und ist für unsere Wohngemeinschaft zuständig. Egal wie das Wetter ist, wir gehen fast jede Woche dort spazieren. Bei schönem Wetter kann jeder gehen.

Ich habe Vertrauen zur Frau Baumann. Ich habe sogar den Mut, mich vor Ihr zu entblößen. Natürlich ziehe ich mich nicht vor ihr aus. Ich möchte damit nur sagen, dass ich auch über sehr Intimes mit ihr sprechen kann. Und alles, was ich ihr sage, bleibt unter uns, und ich muss nur erzählen, was ich erzählen will. Zum Beispiel rede ich über meine Kindheitserinnerungen.
Wenn ich jetzt schreibe, muss ich mir gut überlegen, ob das, was ich sage, auch wirklich meine Meinung ist und ob es mir ein Anliegen ist, es der Öffentlichkeit preiszugeben.

Zuerst möchte ich gerne etwas aus meiner Kindheit erzählen:

Mein Vater war in Pfaffenhausen, meinem Geburtsort, bei den Leuten allseits sehr beliebt. Er hatte die Schlosserei meines Opas übernommen. Aus ihr wurde im Laufe der Jahre eine Tankstelle und Fahrradwerkstatt mit Verkauf. In den guten Jahren hatte mein Vater über hundert Fahrräder auf Lager. Aber ich kann nicht gerade sagen, dass meine Eltern im Umgang mit mir eine besonders glückliche Hand hatten und dass wir Erfolgsmenschen waren. Ich weiß, dass es etwas wehleidig klingt, aber es gab für mich niemanden, bei dem ich mich wirklich hätte aussprechen können. Nur meine Tante Helene wusste ziemlich gut, wie es in meinem Innern aussah, weil sie viel Feingefühl hatte.

Als ich einmal meine Mutter küsste, sagte sie: "Du kannst ja gar nicht richtig küssen!" Meine Mutter konnte auch sehr energisch sein, was mir als Kind Angst machte. So empfindlich war ich. Ich habe erst spät erkannt, als ich schon erwachsen war, wie gut ihr Charakter ist, dass sie in allem, worauf es letztlich ankommt, ein vorbildlicher, sehr feinfühliger und ganz besonders lieber Mensch ist, wie man ihn leider nur sehr selten findet. Sie war auch sehr stark und musste in ihrem Leben vieles erleiden. Ihr Sohn Willibald ist, als er 22 Jahre alt war, mit vier Altersgenossen tödlich verunglückt, auf der Fahrt zu einer Disko. Der Willibald war der Beste von uns Geschwistern. Auch hat meine Mutter viele Ängste ausgestanden, als mein Vater einen unverschuldeten schweren Verkehrsunfall hatte und fast gestorben wäre. In der Gemeinde erzählte man sich sogar, dass er tot sei. Dieser Unfall hätte nun wirklich nicht sein brauchen: Ein junger Mann aus Frankfurt hatte überholt, obwohl mein Vater ihm entgegengekommen war und stieß frontal mit ihm zusammen. Schwerbehindert wurde mein Vater dann aus dem Krankenhaus entlassen. Jahre später ging es aufgrund weiterer unglücklicher Umstände mit dem Geschäft meines Vaters immer mehr bergab. Er verkaufte weniger Fahrräder und, weil die Selbstbedienungskonkurrenz billiger sein konnte, kamen immer weniger Leute zu seiner Bedienungstankstelle. Das Geschäft ging schließlich bankrott und wurde zusammen mit dem Elternhaus zwangsversteigert. Es war auch schlimm für meine Mutter, als sich einige Verwandte von uns abwandten, als wir uns somit unverschuldet in großer Not befanden.
Ich war einmal ein sehr ängstliches Kind, was jeder wusste. Andere Kinder hatten viel Spaß daran, wenn es knallte. Aber ich bin stets sehr erschrocken. Ich war lärmempfindlicher als die anderen Kinder. Wo sie Spaß hatten, mit Gleichaltrigen zu spielen, zog ich mich schüchtern zurück. Ich war auch sehr schwächlich.

Der Schwache braucht mehr Mut als der Starke. - Ich war aber nicht mutig.

Ich hätte schon als Kindergartenkind die Gisela Baumann gebraucht. Denn ich konnte sogar mit der Tante Helene über vieles nicht sprechen, weil ich mich schämte.

Die Familie wollte stolz auf mich sein können. Das spürte ich. Aber ich gab ihr nur wenig Gelegenheit, stolz auf mich zu sein. Meiner Familie blieb nichts übrig, als einzusehen, dass ich in der Art, wie Gott mich geschaffen hatte, begrenzter war als die anderen Kinder. Es muss sehr schwer für meine Eltern gewesen sein zu akzeptieren, dass meine Fähigkeiten ganz andere waren, als ich sie in der Schule und später im Beruf gebraucht hätte. Meine Stärken waren: die Beharrlichkeit, das Feingespür, eine kindliche Kreativität und die Heftigkeit, mit der ich lieben konnte.

Eine ältere Frau aus der Verwandtschaft hat vorausgesagt: „In der Schule weht ein anderer Wind." Für mich, den blassen Buben mit dem Sprachfehler, der als Kind bei der Tante Helene und beim Opa wie ein kleiner Prinz behandelt wurde, war es sehr demütigend, dass ich, obwohl ich zuvor schon in der ersten Klasse war, wieder in den Kindergarten zurückgestellt wurde. Auch mein Vater wird wohl zutiefst enttäuscht gewesen sein.

Als ich dann ein Jahr später wieder in der ersten Klasse war, hatte ich den Eindruck, dass alle anderen Kinder zusammenpassten. Aber ich war nicht so wie sie. Ich war auffällig. Meine Tante Helene hat das, als sie einmal zu mir in die Schule kam, auch gesehen, was mich bedrückte.
Die Schule war nicht meine Sache. Ich wartete immer darauf, dass der Unterricht endlich aus war. Mir gehörten die freien Nachmittage und die Ferien, die ich immer in der Schweiz verbrachte. Mir gehörten die Kinderstunden im Radio und vor allem die Tante Helene. Als wir einmal - damals war ich noch klein - den Mindelheimer Jahrmarkt besuchten, fiel der Helene auf, dass ich nichts für mich wollte, mir alles nur ansah, und das gefiel der Tante Helene: meine Bescheidenheit, meine Genügsamkeit. Ich wusste, dass wir arm waren. Aber als wir einmal ein neues Radio kaufen wollten, fragte mich die Helene, welches mir am besten gefiele und ich habe das teuerste ausgewählt, und dieses haben wir gekauft. Denn ich war als Kind ein begeisterter Radiohörer. Einmal hatte die Tante Helene mir eine Hose genäht. Ich betrachtete mich im Spiegel und war sehr stolz auf diese Hose, weil die Helene sie mir genäht hatte.

Ich freute mich, wenn man mich bewunderte, als ich mit Legosteinen Schiffe und Häuser baute. Und bei Spaziergängen in unserem großen Garten hing ich meinen Gedanken nach und dachte an meine Zukunft. Oder ich träumte einfach vor mich hin. Mein Leben sieht aber jetzt ganz anders aus.

Besonders genoss ich es als Kind, wenn ich einen Freund hatte, mit dem ich Fahrrad fahren, Baumhäuser bauen und auf der Mindel Floß fahren konnte. Besonders erlebnisvoll war es, wenn meine Tante vorlas. Ich spürte, dass ihr diese Kinder- und Jugendbücher auch selbst sehr gut gefielen.

Ich will jetzt versuchen, die Tante Helene, so gut es mir gelingt, zu beschreiben. Sie war für mich mehr als eine Mutter. Sie war immer sehr ärmlich gekleidet, aber das fiel mir nicht auf. Sie hatte außer dem wenigen Geld, das sie für gelegentliche Näharbeiten bekam, kein eigenes Einkommen. Mein Opa hatte ein sehr bescheidenes Einkommen, von der Mitarbeit in der Schlosserwerkstatt meines Vaters. Aber weil der Opa und die Tante Helene überaus genügsam waren, konnten beide davon leben. Ich weiß nicht so recht, wie ich das beschreiben soll. Aber sie ist eine sehr feine Frau gewesen. Die Tante Helene, der Opa und ich waren ganz anders als die anderen Leute. Wir waren viel bescheidener. Ich hatte als Kind keinen Zugang zu den anderen Menschen. Meine Welt war der Opa, die Helene und der große Blumengarten, wo die Helene arbeitete und ich nur spazieren ging und meinen Gedanken nachhing. Am Feierabend goss der Opa die Pflanzen. Ich musste nicht arbeiten. Gelegentlich mähte ich das Gras mit einem Handrasenmäher, weil ich das gerne tat. Am liebsten war es mir, wenn wir am Abend zu dritt auf einer Gartenbank saßen. Und als wir wieder im Haus waren, redeten wir wieder miteinander, oder wir saßen lauschend vor dem Rundfunkemfänger. Ich mochte es gern, wenn eines meiner drei Geschwister hinzukam. Aber meine Schwester und meine zwei Brüder lebten nicht in der behüteten Welt der Tante Helene, sondern in einer anderen Welt, die mir rau und grob vorkam.

Wenn die Tante Helene dazu Muße hatte, malte sie sehr zarte Aquarelle. Am liebsten malte sie Kinder, besonders Mädchen mit Blumen. Es ist wahr, dass sie mich sehr verwöhnt hat. Besonders schön war es für mich, bei der Tante Helene zu schlafen. Bevor ich einschlief, erzählte sie mir immer Geschichten, in denen meistens Kindlein und Engelein vorkamen. Manchmal machten wir mit dem Licht der Nachttischlampe Schattenbilder. Oft alberten wir herum und ich ließ mich dabei aus dem Bett fallen. Dies sind meine schönsten Kindheitserinnerungen.
Als die Helene dann viele Jahre später auf dem Sterbebett lag, redete sie wieder so, wie sie früher mit mir geredet hatte, als ich noch ein Kind war. Sie sagte: „Anton, wenn wir brav sind, kommen wir in den Himmel. Darauf freue ich mich!" Dies waren ihre letzten Worte.
Als ich in der ersten Klasse spaßhalber etwas Witziges sagen wollte, erzählte ich meinen Mitschülern, dass ich immer Brotkrümel durch ein Loch in der Rückwand des Radios werfe. Damit die kleinen Männchen, die aus ihm sprechen, etwas zu essen haben. Das macht der wirklich, dachten die Kinder. Ich wollte schon, dass die Kinder lachten, aber es gefiel mir nicht, dass sie mich für dumm hielten. Aber ich wollte ja nur etwas Nettes sagen, ein Späßlein machen.
Mein Vater sagte einmal: „Die Helene fragt nicht, woher das Geld kommt". Denn auch die Tante Helene profitierte von den Einkünften des Geschäftes. Aber obwohl meine Eltern sehr hart arbeiteten, reichte das Geld nicht.

Obwohl wir zu wenig Geld hatten, machten wir mit Vaters Auto, einem hellblauen NSU Prinz 4, am Sonntagnachmittag Spazierfahrten. Besonders eindrucksvoll für mich war auch die jährliche Fahrt in die Schweiz zu meiner Großtante.

Ich glaube nicht, dass jemand schuld daran war, dass mein Leben so unglücklich verlaufen ist. Um mich zu motivieren, schrieb meine Lehrerin einmal ins Zeugnis: Wenn er will, dann kann er! Ich wollte eigentlich schon mein Bestes geben. Aber irgendwie sieht es so aus, als ob Gott uns alle etwas überfordert hat mit einem so schwierigen Menschen, wie ich es bin. Aber es ist eben alles, wie es ist, und ich muss das Beste daraus machen. Mein Opa kannte Menschen, die in der Schule auch schlecht mitgekommen waren, aber trotzdem im späteren Leben Erfolg hatten. Der Opa hat sehr viel vom Leben gewusst. Und er war mir gegenüber sehr tolerant. Er war wohl der einzige in unserer Familie, der beim Friseur den „Stern" las und bei den Wahlen wahrscheinlich für die SPD stimmte. Unsere Familie hingegen wählte stets konservativ.

Wenn ich den Unterrichtsstoff nicht in der Schule, sondern alleine bei Opa und Tante Helene im Radio gehört hätte, wäre ich sicher ganz gut mitgekommen. Ich lebte mit der Tante Helene in einer eigenen, sehr behüteten Welt. Aber in der Schule störten mich die Mitschüler und ich konnte mich nicht konzentrieren.

Wenn es Zeugnisse gab, zeigten sie die anderen Kinder immer einander. Ich zeigte meines nicht her, weil ich mich schämte. Meine beste Note war eine Drei in Religion und die anderen Noten waren noch viel schlechter.

Über solche Dinge spreche ich mit der Gisela Baumann bei unseren Spaziergängen um den Kuhsee.

Nach unserer Erstkommunion schrieben wir einen Aufsatz über dieses für mich so wichtige Fest. Und die Lehrerin hat mich gelobt, weil ihr ein Satz, den ich geschrieben habe, gefallen hat. Dieser Satz lautete: „Eine Musikkapelle begleitete uns Kommunionkinder feierlich zur Kirche." Das mag trivial anmuten, aber es war wirklich das Beste, was ich in der Schule geleistet habe. Überhaupt nicht zu vergleichen mit meinem heutigen Sprachgefühl.

Im Radio habe ich mir immer gerne die Geschichten vom Kasperle angehört. Und, obwohl ich sehr schüchtern war, wollte ich auch einmal wie das Kasperle im Mittelpunkt stehen. Ich stellte ich mich vor die Klasse, und als alle auf mich schauten, sang ich sehr laut: Ich bin der brave Anton, ich bin so brav, ich bin der brave Anton, ich bin so brav, ich bin so brav ... Die Lehrerin holte ihre Kollegin von der Nachbarsklasse, damit sie meinen komischen Auftritt auch sehen konnte. Als ich so vor der Klasse stand, fühlte ich mich nicht so ganz wohl. Es gefiel mir eigentlich nicht, wie man meinen Auftritt belächelte. Mein Banknachbar sagte am nächsten Tag zu mir: „Singe wieder dein Lied vom braven Anton". Und ich ließ mich dazu überreden.
Meine Lehrerin der dritten und vierten Klasse hieß Spielvogel. Sie war meine beste Lehrerin. Sie war schon alt und hatte in der schlechten Zeit schon meine Tante unterrichtet. Die Tante Helene war eine sehr gute Schülerin gewesen. Frau Spielvogel sagte einmal zu mir: „Ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann, vielleicht wäre eine Sonderschule besser für dich, wenn du bei uns nicht mitkommst." Aber ich habe die Schule dann doch nicht gewechselt.

Als die Frau Spielvogel Bücher aus der Schulbücherei verteilte, gab sie mir den „Kleinen Muck". Mich hat dieses Buch damals nicht interessiert. Aber heute weiß ich, wie gut es Frau Spielvogel mit mir gemeint hat, weil sie gerade dieses Buch, das ich jetzt sehr liebe, für mich ausgewählt hat.

Ich weiß, dass die Frau Spielvogel und meine Tante Helene manchmal über mich gesprochen haben. Die Helene sagte zu mir, dass sie sehr traurig sei, weil die Kinder mit mir machen konnten, was sie wollten.

„Dein Vater ist ein guter Mensch, aber du bist böse." Das hat man mir auch gesagt, als ich beim Stehlen von Erdbeeren erwischt wurde. Dabei hatten wir doch selbst genug von diesen Früchten in unserem eigenen Garten. Aber mir waren Kinder, die stehlen, so sympathisch, dass ich auch so werden wollte wie sie.

Eine Zeit lang hielt in unserer Schule ein alter Pater, der eigentlich schon pensioniert war, den Religionsunterricht. Mir fällt sein Name jetzt nicht mehr ein. Zwei Schüler traktierten diesen etwas gebrechlichen Priester immer, indem sie auf den Knien durch den Klassenraum rutschten. Mir war einer dieser ungezogenen Buben aber so sympathisch, dass ich ihn mir zum Vorbild nahm. Ich trieb es sogar noch schlimmer als die beiden. Aber eigentlich war ich derjenige von den Schülern, der den alten Pater am meisten liebte. Denn es interessierte mich sehr, was er lehrte, und ich konnte mich gut in die Geschichten, die hauptsächlich aus dem Alten Testament stammten, hineinversetzen.

Wenn die Schulglocke ertönte als Zeichen, dass der Unterricht aus war, sagte ich immer ganz laut: „Es läutet!"

Ich habe mir manchmal Gedanken gemacht, was ich tun wolle, wenn ich einmal nicht mehr in die Schule ginge, weil ich älter bin. Die Schule war eine Sache, das Berufsleben würde eine andere sein. Als dieses Berufsleben dann auf mich zukam, meldete mich die Tante Helene in einer Elektrowerkstatt an. Es hatte mich schon immer fasziniert, was die Elektrizität, obwohl man sie nicht sieht, alles bewirken kann. Und ich habe als Schulkind manches ausprobiert, um ihre Wirkungsweise zu erforschen.

Dann kam ein Berufsberater in unsere Schule, und nach einem sehr kurzen Gespräch, an dem auch mein Vater teilnahm, beschloss ich, Bauschlosser zu werden. In den Augen meines Vaters war Schlosser der beste Beruf. Und weil der Opa als mein Vorbild sogar Schlossermeister war, dachte ich, dass aus mir auch ein guter Schlosser werden würde. Und obwohl ich nichts davon sagte, träumte ich davon, wie es sein würde, wenn ich das Geschäft der Eltern übernähme. Ich war ja ihr ältester Sohn. Aber dieses Geschäft hätte sicher mein Bruder Peter bekommen, weil er viel besser dafür geeignet gewesen wäre.

Mein erster Lehrherr hat mich schon in der Probezeit wieder entlassen, weil ich für diesen Beruf nun wirklich nicht geeignet war. Denn in der Schlosserwerkstatt war es sehr laut gewesen. Und ich war immer noch lärmempfindlich. Der Berufsberater fragte mich, ob ich nicht Tankwart werden wolle. Aber da war mein Vater dagegen. Denn er war ja selber Tankwart und wusste, dass ich dafür nicht so geeignet gewesen wäre. Und er hätte mich schon immer lieber als Schlosser gesehen und wollte nicht, dass ich wegen eines Misserfolgs gleich aufgebe. Er begleitete mich zu einem weiteren Vorstellungsgespräch als Schlosser. Mit Erfolg!
Aber eigentlich wollte ich nicht als Schlosser arbeiten. Vielleicht wäre ich ein guter Elektriker geworden. Aber ich war damals noch dumm und wusste nicht, wie ich meinen Willen durchsetzen konnte, um meine eigene Identität zu finden. Ich muss damals wie ein benebelter Bierdempfel durchs Leben getaumelt sein. Einmal bin ich, weil die Gesellen mich traktierten, gegen einen Eisenstab gefallen und musste im Krankenhaus genäht werden. Fast hätte ich mein linkes Auge eingebüßt. Ich durfte aber nicht erzählen, dass an diesem Unfall nicht ich selbst, sondern ein Geselle schuld war.

Einmal besuchte ich mit vier Gesellen das Oktoberfest. Weil es halt so zünftig war, trank ich viel Bier und musste mich erbrechen. Mein Jackett war stark verschmutzt von dem erbrochenen Sauerkraut. Bei der Rückfahrt schlug einer von uns Schlossern ein Zugfenster zu Bruch. Wir wechselten schnell den Wagen, damit der Schaffner nicht herausfinden konnte, dass dies einer von uns getan hatte.

Die Gesellen lachten über meine Tölpelhaftigkeit. Auch ein Kunde hielt mich für beschränkt und sagte dies meinem Chef. Als mein Vater sah, dass ich die Nase voll hatte, sagte er, um mich zu motivieren: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre". Aber das war noch gelinde ausgedrückt. Der Wind wehte im Berufsleben noch schärfer als in der Schule. Ich bestand die Gesellenprüfung nicht, vielleicht auch, weil ich getrunken hatte, bevor ich zur Gesellenprüfung ging. Aber meine Stärke war die Beharrlichkeit. Ich machte einen zweiten Versuch und dann bestand ich die Prüfung. Ich habe dann immerhin insgesamt achtzehn Jahre lang einfache Schlosserarbeiten gemacht:

Am liebsten habe ich anspruchsvolle Schweißerarbeiten gemacht. Etwa ein Jahr lang arbeitete ich in der Metallsägerei. Auch an der Eisenpresse musste ich arbeiten. Sehr ungern habe ich mit der Flex gearbeitet. Oft musste ich mit einer Schlagschere Flacheisen zuschneiden. Auch sehr große Serien (500 Stück). Das Flacheisen bis zum Anschlag einschieben. Klack! Abschneiden. Diese Arbeit musste sehr schnell gehen. 2000 Flacheisen bohren. Bohrlehre aufs Flacheisen, und schon findet der Bohrer das richtige Plätzchen. Der Berufsschullehrer hat einmal gesagt, dass solche Arbeiten meistens einer macht, der nicht gerade der Intelligenteste ist.

Einmal fragte mich der Meister, ob ich damit einverstanden wäre, dass man mich anlernte, damit ich in der Sandstrahlerei eine Urlaubsvertretung übernehmen könne. Bei dieser Arbeit musste ich einen Schutzanzug tragen, der in etwa so wie ein altmodischer Taucheranzug aussah.
In der Sandstrahlhalle war alles voller Staub und Sand. Ich schaute durch eine Glasscheibe, die oft ausgewechselt werden musste, weil sie vom aufgewirbelten Grafitsand ziemlich schnell so zerkratzt war, dass ich nicht mehr hindurchschauen konnte. Ich hielt den Pressluftschlauch fest in den Händen. Durch eine Düse ist aus ihm der Grafitsand wie eine Maschinengewehrsalve herausgeschossen und auf das Eisen geprasselt, um es ganz blank zu machen, was ja der Zweck des Sandstrahlens war.

Um überhaupt atmen zu können, war ich über einen Schlauch mit dem Kompressor verbunden. Denn die Sandstrahlhalle war eingenebelt durch den aufgewirbelten Staub. Mit den Schläuchen musste ich über Eisenteile steigen. Manche Werkstücke waren so hoch, das ich hinaufsteigen musste, um sie zu bearbeiten.

Der Kollege muss mich gut angelernt haben, denn als er vom Urlaub zurück kam, sagte der Meister, dass jetzt nicht mehr dieser Geselle, sondern ich in der Sandstrahlerei arbeiten solle. Aber mein Kollege, den ich somit herausgedrängt hatte, hat keinen passenden Platz mehr im Betrieb gefunden. Und dabei hat er doch viel lieber als ich gesandstrahlt. Ich bin bei der Arbeit gestürzt, als ich mit meinem Taucheranzug auf eine Leiter steigen wollte, und habe mir dabei die Schulter ausgekugelt. Und ich musste operiert werden. Schließlich habe ich gekündigt, weil ich dachte, dass die Arbeit in der Sandstrahlerei meiner Gesundheit schadete.

Wenn ich gefragt wurde, wie es mir in der Arbeit gefiele, sagte ich immer: „Ganz gut". Dabei war es nicht schön, im Akkord zu arbeiten. Der Chef sagte öfters: „Diese Arbeit sollte schneller gehen." Die Kollegen sagten, dass ich lieber nicht so schnell, aber sorgfältig arbeiten solle.

Für mich war die Arbeit nur eine lästige Pflichterfüllung. Öfters sagte man zu mir: „Als Schlosser müsstest du das doch können!" Aber ich konnte es nicht.

Aber als ich für den Pflichtwehrdienst einen Intelligenztest machte, wunderte man sich, dass ich im bisherigen Leben nicht mehr erreicht hatte. Ich bin nicht dumm, das merkt man sicherlich, wenn man meine Geschichten liest. Ich wusste nur nicht, wie mein Leben gelingen konnte.
Ich bin auch in der Bundeswehr gescheitert. Für viele ist der Wehrdienst dazu da, damit sie richtige Männer werden. Vielleicht denken sie, was uns nicht tötet macht uns stärker. Oder sie denken, sich kratzen schadet nichts. So ein Blödsinn!

Wenn man weiß, was mein Opa alles erlebt hat, kann man gut verstehen, dass er gegen die Bundeswehr eingestellt war. Und seine Erziehung hat mich geprägt. Deshalb habe ich später noch eine sogenannte Gewissensprüfung gemacht, damit ich nicht mehr eingezogen werden konnte. Ich wollte nicht in der Bundeswehr das Töten trainieren.

Mein Vater konnte nicht so einfach wie ich den Kriegsdienst verweigern, weil er in der schlechten Zeit gelebt hat. Er war in Stalingrad und kam in die russische Kriegsgefangenschaft, wo es furchtbar gewesen sein musste. Seine zwei Brüder sind im Krieg gefallen. Den einen, seinen Bruder Heinrich, haben die Nazis gezwungen, im kalten Wasser zu schwimmen, obwohl ihm das ein Arzt streng verboten hatte, und er ist infolgedessen gestorben. Man kann verstehen, dass mein Opa von da an einen Hass gegen alles Deutsche hatte. Das ging so weit, dass er den Nachrichten der deutschen Sender nicht mehr glaubte und lieber im Schweizer Radio das „Echo der Zeit" hörte.

Und ich hörte in Opas Sender immer die Kinderstunde und übernahm von meinem Opa das Misstrauen gegen alles Deutsche. Wir hatten auch deshalb eine besondere Beziehung zur Schweiz, weil die Schwester meines Opas, bei der ich immer die großen Ferien verbrachte, im Schweizer Kanton Thurgau wohnte. Meine Sprache war damals eine Mischung von Schwäbisch und Schweizer Deutsch. Ich hatte als Kind auch einen auffälligen Sprachfehler.

Ich muss auch noch erzählen, dass die Tante Helene es nie vergessen hat, dass ihr Zwillingsbrüderchen bei der Geburt getötet werden musste, damit sie selbst überleben konnte. Die Hebamme hatte zu spät einen Arzt hinzugezogen. Dies muss für meinen Opa ebenfalls ein schreckliches Erlebnis gewesen sein.

Die letzten Monate im Berufsleben waren für die schlimmsten. Ich wohnte und arbeitete damals in Legau bei Memmingen und bin dort total vereinsamt. Ich hatte jedes Interesse an diesem Beruf verloren. Meine eigentliche Berufung war das Geschichtenschreiben und das kreative, künstlerische Fotografieren. Die Kollegen sagten zu mir, ich sei nur ein Hobbyfotograf, aber damit war ich nicht einverstanden. Ich beharrte darauf, Berufsfotograf zu sein, ein Künstler mit der Kamera. Ich war wie besessen von dem Ehrgeiz, nicht mehr Schlosser, sondern ein Künstler zu sein. Und mir sind tatsächlich in dieser ansonsten für mich erfolgsarmen Zeit ein paar beachtliche Aufnahmen gelungen. Aber dafür hatten nicht viele meiner Kollegen ein Auge. Einmal habe ich in Legau durch das Werkstattfenster einen schönen Sonnenaufgang gesehen und sofort die Arbeit verlassen, um ihn zu fotografieren. Dies war ja mein eigentlicher Beruf. Dies war mir mehr wert als meine Arbeit mit dem Metall. Aber das Foto vom Sonnenuntergang habe ich, gleich nachdem es entwickelt war, weggeworfen. Es war nicht gut genug für meine Ansprüche. Weil ich, um als Berufskünstler zu gelten, alles nur Mittelmäßige gnadenlos aussondern musste.

Wer ein guter Schlosser war, fand Anerkennung. Ich war, wie schon gesagt, damals wahnsinnig vor Einsamkeit. Ich war ein ganz anderer geworden als es mir durch meine Erziehung durch die Tante Helene vorgegeben war. Die Grundhaltung von Opa und der Tante Helene war eine Frömmigkeit, die reiche Frucht brachte, weil sie mit Genügsamkeit verbunden war (vgl. 1 Tim 6,6).

Früher sprach ich offener darüber, was ich Unrechtes getan habe. Aber ich musste erfahren, dass manche Menschen mich vorschnell verurteilen. Man soll nur mit seinem Beichtvater über alles reden und für mich ist auch die Gisela Baumann in gewisser Weise wie ein Beichtvater.
Diese meine schwere Lebenskrise betreffend, möchte ich hier nur noch erwähnen, dass ich wegen einer Psychose für ein halbes Jahr gerichtlich in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurde.

Das Beste das mir, wie ich es sehe – die meisten sind da anderer Meinung und können es nicht verstehen – hätte passieren können, ist nun eingetreten. Ich habe nun, weil ich schwerbehindert bin, eine für mich völlig ausreichende Erwerbsunfähigkeitsrente zugeteilt bekommen. Jetzt bin ich frei. Der Doktor von Lievenfels – er ist unter den Psychologen eine Kapazität – sagte nach eingehenden Untersuchungen: „Sie können nicht mehr arbeiten!" Denn der Aufenthalt in der Psychiatrie hatte in meiner Psyche bleibende Schäden hinterlassen.

„Keine Angst, Anton, jetzt werden keine Höchstleistungen mehr von dir erwartet." Wenn ich in der Tagesstätte für psychische Gesundheit ein Bild male, tue ich das zur Entspannung. Ich habe in meinem Leben schon genug produziert. Und wenn ich nur noch lesen würde, Gott hätte sicherlich nichts dagegen. Der Opa und die Helene hätten es gern gesehen, wenn ich in der Tagesstätte Serienarbeiten machen würde. Aber durch die Art, wie sie mich erzogen hatten, war ich viel besser für den Müßiggang, für ein geistliches und in mich gekehrtes Leben geeignet. Aber meine Eltern wären mit dem Weg, den ich jetzt gehe, nicht einverstanden, und mich setzt dieser Gedanke manchmal etwas unter Druck. Als mein Vater im Sterben lag, war ich bereits ein halbes Jahr psychisch krank. Trotzdem sagte er: „Ich will dich wieder als Schlosser sehen" - und ich weiß, dass er es gut mit mir gemeint hat. Selbst ein Priester hat, als ich in fragte, ob ich arbeiten sollte, gesagt, dass er darüber nicht lange nachdenken müsse, weil zum Leben auch das Arbeiten gehöre. Bete und arbeite. Das sei auch die Regel des Heiligen Benedikt. In der Tagestätte könnte ich an einem geschützten Arbeitsplatz Serienarbeit machen. Meine Schwester will, dass ich das tue. Aber ich will nicht mehr arbeiten. Gisela Baumann und ich sind uns einig, dass meine Haltung eine entspannte sein soll. Hauptsache, mir geht es dabei gut.
Die Gisela Baumann hat aber angst, dass ich mich dann doch zu sehr verkrieche. Wenn ich mir heute Gedanken mache, welchen Beruf ich hätte ergreifen sollen, fällt mir vor allem der Beruf eines Tierpflegers ein. In diesem Beruf hätte ich mein Bedürfnis zu lieben und auch Liebe zu empfangen gut ausleben können. Aber jetzt bin ich nun mal Frührentner. Und jeder sieht es mir an, dass ich etwas beschränkt bin. Und dabei habe ich einmal ein schweres Motorrad gefahren, eine 1000 cc Yamaha TR 1. Jeder Mensch hat seinen eigenen Lebensweg.

Die Tante Helene hatte sehr viele Ängste, die sich wohl auf mich übertragen haben. Am schwersten zu bewältigen sind die Ängste. Die lassen sich nicht so einfach wegtherapieren. Es sind zum großen teil immer noch die gleichen Ängste, die ich schon als Kind hatte. Sie haben sich in mir festgefressen, so sehr, dass selbst der Doktor von Lievenfels nichts mehr machen konnte. Ein Pastor hat einmal gesagt, wenn Jesus nach Augsburg käme, würde er mit uns über unsere Ängste reden.

Wenigstens erdrücken mich meine Ängste nicht, weil ich inzwischen gelernt habe, über meine Ängste zu sprechen. Und wenn es etwas ist, über das ich sonst mit niemandem sprechen will, kann ich in den Beichtstuhl gehen. Gott verzeiht mir gern den ganzen Mist, den ich gebaut habe. Ich kann mir kaum vorstellen, was ein Priester in der Beichte so alles zu hören bekommt. Nachdem ich gebeichtet habe, bin ich so fröhlich, dass ich ein Fest feiern will. Ich darf mich an Gott erfreuen. Denn er ist gut. Und ich bin auf der Welt, damit Gott sich auch an mir erfreuen kann. Das ist der Sinn meines Lebens, dass Gott Freude an mir hat. Jedes Leben sieht anders aus. Und ich möchte mein Leben dazu nutzen, um in der Welt der Bücher spazieren zu gehen. So wie ich als Kind in Helenes großem Blumengarten spazieren gegangen bin. Für den, der Blut geleckt hat und erfahren hat, was es heißt zu lesen, ist das Lesen etwas Herrliches. Man liest zum Beispiel Süßkinds Buch „Das Parfüm" und dann etwas von John Steinbeck und schon hat man Blut geleckt und man ist süchtig nach dem Lesen. Sicher in gewisser Weise ist das Lesen nichts Handfestes, sondern etwas, das sich mit der Zeit manchmal verflüchtigt. Besonders, weil ich die Bücher jetzt nicht mehr kaufe, sondern sie mir nur ausleihe. Aber manche Bücher bleiben mir immer in Erinnerung, zum Beispiel „Tom Sawyer und Huckleberry Finn", und Jaschar Kemals nicht sehr bekannte Erzählung „Auch die Vögel sind fort". Das ist ein wunderbares Buch das in Istanbul spielt. Ich bin jetzt schon seit einem halben Jahr süchtig nach Büchern. Und in den Augen meines Vaters wurden Bücher von Leuten geschrieben, die mit ihrem Leben nicht zurechtkamen. Aber ausgerechnet sein Sohn ist jetzt nicht mehr Schlosser, sondern eine Leseratte von Beruf. Für mich ist Lesen die engstmögliche Annäherung an die Seele des Menschen, der das Buch geschrieben hat. Lesen ist für mich auch eine Möglichkeit, sehr intensiv zu leben. Ich kann in meinem ganzen Leben, selbst wenn ich Tag und Nacht lesen würde, nur einen kleinen Teil der Bücher, die schon geschrieben wurden, erkunden. Ich denke, dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss, wenn ich lese, anstatt Serienarbeiten zu machen.
Ich muss wissen, wo ich hingehöre. In der Tagesstätte für psychische Gesundheit bin ich in netter Gesellschaft. Hier sind Menschen, die ebenfalls schon viel mitmachen mussten. Hier kann ich durch meine stille und zurückhaltende Art Freunde gewinnen. Ich wohne gerne ich Augsburg, besonders, weil ich immer Leute treffe, die ich kenne, wenn ich in dieser Stadt spazieren gehe. Wir psychisch Kranken kennen uns alle. Ich denke, dass Gott mit jedem Menschen etwas vorhat. Was, das muss jeder selbst herausfinden.