Dienstag, 24. April 2007

Indianer

Christian Kohlbaum entdeckt Amerika

Etwa vier Jahre, bevor Christoph Kolumbus Amerika entdeckte, lebte in einem Dorf unweit von Hamburg ein sehr sensibler Einzelgänger, ein älterer Herr, der Christian Kohlbaum hieß. Seine weitaus meiste Zeit verbrachte er, ohne dass er mit Menschen in Berührung kam, in einem kleinen muffigen Studierzimmer. Er erzählte niemandem, dass er eine große Erbschaft gemacht hatte und sich nun fast alles leisten konnte.

Bis jetzt hatte er wenig von dem Geld ausgegeben. Er sprach mit niemandem über seine Pläne. Auch nicht, als er in Hamburg ein hochseetüchtiges Schiff kaufte und damit begann, für sein geheimes Vorhaben Matrosen anzuheuern, denen er einen guten Sold zahlen wollte. Es waren zumeist Männer, die ihre Arbeit an Bord gut verrichteten aber nicht zimperlich miteinander umgingen. Kohlbaum dachte, dass bei manchem Seemann, den er angeheuert hatte, unter der rauen Schale vielleicht ein weicher Kern verborgen sein mochte. Kohlbaum zog sich soweit wie möglich in seine Kapitänskajüte zurück, in der er nicht gestört werden wollte. Aber weil er seinen christlichen Glauben sehr ernst nahm, gebot ihm sein Gewissen missionarisch zu wirken. Er wollte seinen Seeleuten Mut machen, den weichen Kern nicht unter der rauen Schale zu verstecken. Die Mannschaft hatte Achtung vor ihrem Kapitän, weil er Kapitän war. Aber als die Matrosen wieder unter sich waren, hatte sich an der Art, wie sie miteinander umgingen, nichts geändert.

Obwohl sie gewiss nicht reich waren, vielleicht auch gerade deshalb, war "Geld" ein Wort, das die Matrosen so aussprachen, wie ein guter Christ das Wort "Gott" aussprechen würde. Die meisten von ihnen gingen sehr sparsam, manche sogar geizig, mit ihrem karg bemessenen Sold um. An Bord gab es nur Tabak und Alkohol zu genießen. Aber für ein besonders nettes Erlebnis mit einem Mädchen im nächsten Hafen war ihnen das Geld nicht zu schade.

Paul Graf war nicht so wie die anderen Matrosen. Er sprach ein gepflegtes Deutsch. Und er hatte, als das Schiff beladen wurde, nichts als einen großen Koffer voller Bücher an Bord gebracht. Jede Stunde, die er sich freihalten konnte, verbrachte er mit Lesen. Aber er machte auch seine Arbeit recht. Der Kapitän, der sich vor den Matrosen verschloss, sie aber heimlich beobachtete, merkte, dass mit Paul ein hochsensibler Mensch auf seinem Schiff war, und er machte sich Gedanken, wie er es anstellen konnte, ihn als Freund zu gewinnen.

Drei Wochen waren sie nun schon auf dem Meer und der Kapitän hatte bisher nur das Nötigste gesprochen. Endlich bat er Paul Graf, ihm die Bücher, mit denen sich dieser so sehr beschäftigte, zu zeigen. Er sprach nicht viel mit Paul Graf, aber als er am Gehen war, wandte er sich noch mal um und sagte: "Ich suche den Seeweg nach Indien." Noch nie zuvor hatte Christian Kohlbaum sein Geheimnis preisgegeben. Er ging wieder in seine Kajüte, in der er so wie immer nicht gestört werden wollte. Er war in guter Stimmung. "Paul Graf ist mein Freund", dachte er.

Die Fahrt hatte schon sehr lange gedauert. Das Trinkwasser ging zur Neige und eine Rattenplage war ausgebrochen. Und das ganze Schiff war von Dämonen* verseucht. Paul Graf war der einzige, dem diese nichts anhaben konnten. Aber die übrigen Mitglieder der Mannschaft gingen immer gehässiger miteinander um. Manche hatten sogar Angst, dass bald die Pest ausbrechen würde. Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Keiner aus der Crew war bisher so lange ohne Unterbrechung auf dem Meer gewesen.

Endlich! Der befreiende Ruf: "Land in Sicht!"

Nachdem alle an Land gegangen waren, merkte der Kapitän, dass es mit diesem Land eine besondere Bewandtnis hatte. Zuerst fiel ihm auf, dass die Tiere bei weitem nicht so scheu wie in der Heimat waren. Hier war es leicht ein Wild zu schießen, um es am Feuer zu braten. In der Nähe des Ufers entdeckte Paul Graf eine Quelle. Es war himmlisch, nach der langen Zeit der Entbehrungen wieder klares Wasser zu trinken. Und alle genossen sie das über dem offenen Feuer gebratene Rehfleisch.

Christian Kohlbaum wollte sich für längere Zeit von der Mannschaft entfernen, um das Landesinnere zu erkunden. Er wusste nicht, wie lange er wegbleiben würde. Aber es war schwer jemanden zu finden, der in der Zeit seiner Abwesenheit für Ordnung sorgen sollte. Schließlich fragte er Paul Graf, ob er sich das zutraute. Denn Graf war der einzige, dem er dieses Amt anvertrauen wollte. Aber Kohlbaum war sehr besorgt, weil er wusste, dass sein Freund dieser Aufgabe nicht gewachsen war. Um Graf zu stärken und der Mannschaft Respekt einzuflößen, überließ er ihm sein bestes Gewehr.

Schon am ersten Tag seines Erkundungsgangs traf er auf Menschen, die völlig anders waren als die Europäer. Weil er immer noch glaubte in Indien zu sein, nannte er sie Indianer. Diese Indianer waren viel gastfreundlicher als die Menschen seiner Heimat. Christian Kohlbaum, der nur selten jemanden an sich heranließ, spürte schnell, dass es ein Fehler wäre, sich von den Indianern abzusondern. Er dachte sogar: "Wenn ich nur auch ein Indianer wäre." Sie hatten ihm ein Zelt zugewiesen, wo er wohnen konnte, und das sehr liebevoll eingerichtet war. Jetzt begann er die Sprache und die Lebensweise dieser Menschen zu studieren. Gerne nahm er die Gelegenheit wahr, den Indianern auch von seiner Heimat zu erzählen. Ihm fiel auf, dass die Indianer sehr wertvollen Schmuck trugen. Eine Indianerin bemerkte sein Interesse an ihrem Schmuck. Und ohne zu zögern wollte ihm diese Frau, die ihm bisher noch nie aufgefallen war, ihren Schmuck schenken. Jeder andere Europäer hätte dieses Geschenk wohl freudig angenommen. Aber Kohlbaum wäre nicht er selbst gewesen, wenn er der Indianerin, die den Wert ihres Geschenkes gar nicht bemessen konnte, ihren Schmuck abgenommen hätte. Soviel Ehrgefühl hatte er sich von Kindheit an bewahrt. Er brachte der Frau freundlich bei, dass sie ihren Schmuck behalten solle. Aber im Innersten wusste er, dass sie etwas beleidigt war, weil er ihr Geschenk verschmähte.

Im Vergleich mit dem Land, in dem er jetzt war, schien Europa vom Geld wie von einem Dämon besessen zu sein. Selbst unter Christen spielt das Geld eine größere Rolle als gepflegte Sprache, Schönheit und Barmherzigkeit. Bei den Indianern gab es so etwas wie Geld nicht. Für andere Völker ist das Geld der Gott. Der Gott der Indianer aber war Schönheit und Ehre. Als Kohlbaum einem Indianer von der Eisenbahn** erzählte, konnte dieser nicht verstehen, dass, wer mit ihr fahren will, bezahlen muss. Die Eisenbahn müsste doch allen gemeinsam gehören. Und jeder sollte damit so weit fahren dürfen, wie er will. Bei den Indianern arbeitete jeder so schnell er wollte, niemand wurde gehetzt. Aber auch der Schwache, der gar nicht arbeiten konnte, wurde geachtet. Jeder hatte seine Würde.

In Kohlbaums Augen war die Kultur der Indianer etwas Heiliges und Schützenswertes. Die Indianer mussten unbedingt von dämonischen Einflüssen, die die Berührung mit den Europäern mit sich gebracht hätte, bewahrt werden. Kohlbaum dachte an das Unheil, das seine Matrosen den Indianern antun könnten. Und diese Sorge erwies sich als durchaus begründet.
Der 58-jährige Paul Graf war, als Kohlbaum ihn wieder traf, ein gebrochener Mensch. Denn er hatte es nicht geschafft, der groben Mannschaft Herr zu werden. Kohlbaum gelang es nicht, seinen Freund zu trösten. Innerlich zutiefst bewegt erzählte ihm Paul Graf, wie die Seemänner Indianerfrauen geschändet und vergewaltigt hatten, oft vor den Augen ihrer Kinder. Graf erzählte weinend, dass einige, die so geschändet wurden, noch Jungfrau waren. "Den Indianermännern wächst nicht einmal ein Bart, so unschuldig sind sie", sagte Paul Graf immer noch weinend.

Kohlbaum dachte bei sich: "Ich muss unbedingt das Unheil, das ich über dieses Volk gebracht habe, wieder ausmerzen. Durch mein Zutun ist das Dämonische in dieses Land gekommen. Ich muss mein Schiff durch Feuer vernichten, so dass niemand aus unserer Mannschaft nach Europa zurückkehren kann. Dass es die Indianer gibt, muss ein Geheimnis bleiben. Ich will über jedes Mitglied meiner Crew Gericht halten. Aber ich muss dabei bedenken, dass der jeweilige Angeklagte nicht nur durch eigenes Zutun Schuld auf sich geladen hat, sondern dass der Unglückliche das Opfer eines Dämons gewesen ist."

Leider konnte die blutige Unterdrückung der Indianer auf Dauer nicht verhindert werden. Denn vier Jahre später entdeckte auch Christoph Kolumbus Amerika ...


* Dämonen sind böse Geistwesen, deren Existenz aber heute umstritten ist.
** Der Autor bittet die Leser, den Anachronismus zu entschuldigen. Natürlich gab es zu jener Zeit noch keine Eisenbahnen in Europa.